Konfliktforschung: Nationalismus, Fundamentalismus, Multikulturalität

Konfliktforschung: Nationalismus, Fundamentalismus, Multikulturalität
Konfliktforschung: Nationalismus, Fundamentalismus, Multikulturalität
 
Die für die Herausbildung von Identitäten wichtigen Definitions- und Abgrenzungsprozesse müssen keineswegs den Charakter unversöhnlicher Feindschaft annehmen. Das Andere muss nicht das schlechthin Fremde sein — so attraktiv eine forcierte Ausgrenzung gerade in Zeiten beginnender Gruppenbildung und Phasen bedrohter Identität ist. Diese Prozesse laufen nicht automatisch ab, sondern sie sind das Ergebnis politischer Entscheidungen, intellektuell-künstlerischer Konzepte und sozialpsychologischer Vorgänge.
 
 Zusammenhänge durchschaubar machen
 
Zunächst können wir uns nicht auf die Einsicht zurückziehen, dass in der Geschichte nichts zwangsläufig geschieht und sich nichts wiederholt. Die Hände in den Schoß zu legen reicht nicht, weil erstens Identität, gerade wo sie konstruiert ist, als gegeben und natürlich erscheint und weil zweitens diejenigen, die Identitäten — mit welchen Interessen auch immer — zu stiften versuchen, in bestimmten Situationen und wenn sie an verbreitete Wahrnehmungen, ja Vorurteile und Klischees anknüpfen, Plausibilität beanspruchen und Zustimmung finden können.
 
Besondere Aufmerksamkeit ist geboten, gerade weil das Imaginäre so wichtig ist und weil das Bild des — real oft unbekannten — Anderen leicht von Stereotypen und Bewertungen, von Reduzierungen und Verengungen sowie Projektionen geprägt ist. Die damit geschaffenen Selbst- und Fremdbilder werden sichtbar zum Beispiel im attraktiven Gewand literarischer und historiographischer Darstellungen, und sie werden wirksam in allen Medien und Institutionen, auch in der Schulbildung.
 
Die eingangs erwähnten Szenarien können also durchaus Wirklichkeit werden. Wir können uns aber dagegen wappnen, indem wir die Mechanismen von Identifizierung und Gemeinschaftsbildung in ihrer jeweiligen Bedingtheit aufzeigen und verstehen lernen. Damit geraten zum einen auch die politischen Interessen in den Blick. Sie forcieren solche Ab- und Ausgrenzungen und instrumentalisieren die Formen der Identitätsbildung. Zum anderen werden diejenigen sozialen und ökonomischen Konstellationen sichtbar, die solche Identitätsbildung bedingen und ermöglichen. So wird durchschaubar, was zunächst verdeckt ist, und es werden Prozesse bewusst, die anscheinend im kollektiv Unbewussten ablaufen. Auch hier mag gelten, was der Psychoanalytiker Sigmund Freud über die Seele gesagt hat, dass dort, wo »Es« war, »Ich« werden soll. Aufklärung in diesem Sinne ist unerlässslich, sie besteht im Erforschen der Zusammenhänge und im Wissen über sie. Mit den Worten Pierre Bourdieus: »Jeder Fortschritt in der Erkenntnis der Notwendigkeit ist ein Fortschritt in der möglichen Freiheit.. .. Ein unerkanntes Gesetz ist wie Natur, ist Schicksal. ..; ein erkanntes Gesetz erscheint als Möglichkeit von Freiheit.«
 
 Den Anderen kennen
 
Zum Wissen gehört aber auch die genaue Kenntnis des jeweils Anderen. Denn je mehr wir wirklich über ihn wissen, desto mehr sind wir vor falschen Wahrnehmungen und daraus resultierenden Bewertungen und Zuschreibungen sicher. Aber das Wissen hat auch Grenzen: Dazu gehört der Respekt vor dem Differenten, wie ihn besonders die Alteritätsphilosophie von Emmanuel Levinas postuliert. Die Kenntnis des Anderen und Fremden kann auch zu einer Vereinnahmung und Aneignung führen, die auf den Menschen selbst zurückwirkt. So sieht er sich schließlich mit fremden Augen und ist selbst noch im Widerstand in den ihm auferlegten Bildern gefangen. Dies lässt sich an der Expansion Europas exemplifizieren, die ja auch eine Expansion seiner Denkmodelle und hermeneutischen Konzepte war und ist. Das Andere weder als schlechthin Feindliches zu sehen noch in irgendeiner Weise zu vereinnahmen, sondern es als Fremdes zu respektieren und ihm sein Geheimnis zu lassen, auch dies müsste gelten. Es ist eine Gratwanderung zwischen Wissen und Nichtwissen, zwischen Aufklärung und Rücksicht. Sie könnte ein Nebeneinander ermöglichen, eine Anerkennung der Differenz, auch zwischen Nationen, die als bereichernd empfunden wird. Sollte nicht so der Umgang mit Identität für das neue Jahrtausend aussehen?
 
Welche Fragen werden sich angesichts der beschriebenen Mechanismen konkret für die Zukunft ergeben und welche Perspektiven lassen sich auf der Basis umfassenderer kulturwissenschaftlicher Modelle für die kommende Zeit aufzeigen? Die Antworten können und sollen keine eindeutigen Prognosen und fest definierten Rezepte sein. Es können sich auch nicht einfach Trends »hochrechnen« lassen, denn im gesellschaftlichen Leben gibt es viele Regeln und Gesetzmäßigkeiten.
 
Diese verdichten sich aber nicht zu historischen Gesetzen, die zwingende Voraussagen erlauben. Vielmehr geht es darum, vor dem Horizont aktueller Problemlagen und mit dem Blick auf deren historisch-soziale Verankerung konkret zu zeigen, welche Prozesse kultureller Identitätsbildung im Spannungsfeld von Identifizierung und Abgrenzung, von Nivellierung und Eigenständigkeit derzeit ablaufen. Zieht man die oben behandelten Mechanismen heran, so wird allerdings deutlich, welche Alternativen und Optionen in Zukunft bestehen, wohin Entwicklungen führen oder führen können und welche Richtungen diese nehmen, wenn bestimmte Voraussetzungen und Rahmenbedingungen gegeben sind oder nicht. Es wird dabei auch der Spielraum deutlich werden, den menschliches Handeln bei allen Sachzwängen hat. Dabei sind vor allem drei Problemfelder und Entwicklungstrends ins Auge zu fassen: die »Wiedergeburt des Nationalismus«, die Multikulturalität und die Globalisierung. Sie sind eng miteinander verknüpft, sollen aber aus Gründen der besseren Verständlichkeit getrennt behandelt werden. Zum Schluss wird dann zu fragen sein, welches Weltverständnis und welche Weltbilder der Menschen in diesem Zusammenhang wirksam sind und welche Chancen für eine nicht vom »Kampf der Kulturen« geprägte Welt in ihnen liegen.
 
 Nationalismen
 
Die Brisanz des wieder erwachten Nationalismus liegt vor allem darin, dass er mit dem Willen zur Staatenbildung verknüpft ist. Das angemessene Gehäuse eines Volkes scheint, ganz selbstverständlich, der Nationalstaat zu sein. Die »Vereinten Nationen« gehen von dieser Organisationsform als dem Normalfall aus. Damit aber sind nicht nur diverse politische Interessen, der Kampf um Macht und Einfluss, im Spiel, sondern auch die schon skizzierten Mechanismen von Vereinheitlichung nach innen und markanter Grenzziehung nach außen. Da die Nation beziehungsweise der Nationalstaat aber ein recht modernes Phänomen ist, stehen diese Tendenzen oft quer zu historisch gewachsenen Zuständen. Das Nebeneinander verschiedener Gruppen mit zum Teil unterschiedlichen Traditionen und Kulturen passt nicht zu den Nivellierungstendenzen.
 
Massiv zeigt sich dieses Problem in der ehemaligen Sowjetunion. Sie gab sich unter Stalin eine maßgeschneiderte föderale Verfassung mit einem klug abgestimmten System von — teilweise sogar völkerrechtlich definierten — Unionsrepubliken und verschiedenen autonomen Gebieten. Theoretisch bildete diese Verfassung das Musterbild einer bundesstaatlichen Organisation. Nur war ihre Reichweite stark eingeschränkt, weil ein extremer machtpolitischer Zentralismus herrschte und es keine Chance gab, dass sich Regeln eines differenzierten, multiethnischen und multikulturellen Zusammenlebens einspielen und verfestigen konnten.
 
Die Auflösung der Sowjetunion führte zur Etablierung von Staaten, die sich primär als Nationalstaaten verstehen, und damit wurde die Integration solcher Gruppen, die sich nicht dem dominierenden Volk zurechneten, zum Problem. Zahlreiche gewalttätig ausgetragene Konflikte, im zu Russland gehörenden Tschetschenien, in Georgien, zwischen Armenien und Aserbaidschan und in Zentralasien, signalisierten dieses Spannungsverhältnis. Gerade in der Kaukasusregion und in verschiedenen zentralasiatischen Gebieten leben unterschiedliche ethnische Gruppen dicht zusammen, die sich zum Teil als Nation verstehen. Hier liegen Brennpunkte zukünftiger Auseinandersetzungen.
 
 Nationalistische und religiöse Bewegungen
 
Es zeigt sich in diesen Regionen, dass nationale und nationalistische Bewegungen in dem Maße virulenter werden, in dem sie mit unterschiedlichen religiösen Vorstellungen verbunden sind. Hat schon die Nation selbst, zumal in säkularisierter Umgebung, nicht selten pseudoreligiösen Charakter angenommen, so wird das noch deutlicher, wenn die religiöse Zugehörigkeit ein wesentliches Merkmal nationaler Integration und politischer Abgrenzung ist. Dieser Vorgang ist besonders wirksam bei Religionen, die ein in sich geschlossenes Weltbild haben, das die eigene Gemeinschaft einem »Reich des Bösen« konfrontiert sieht und die dementsprechend die ihr Angehörenden zu Kampf und Mission aufrufen, zum »heiligen Krieg«.
 
Wie die Geschichte des Christentums und des Islam zeigt, können durch die religiösen Empfindungen beträchtliche Energien auch in großen Bevölkerungsmassen freigesetzt werden. Sie lassen sich politisch instrumentalisieren und nicht zuletzt als Bindekraft nationaler Integration einsetzten — um den Preis aggressiver Aus- und Abgrenzung. Je radikaler die religiöse Orientierung ist — und hier spielt der Fundamentalismus eine wesentliche Rolle —, desto größer ist ein zu Schwarz-Weiß-Denken tendierendes Konfliktpotenzial.
 
Der bis heute größte und folgenreichste Konflikt, der aus der engen Verbindung nationalistischer und religiöser Bewegungen resultierte, ist der zwischen Indien und Pakistan. Hinduismus und Islam bildeten das entscheidende Kriterium für die nationale Zuordnung, und so ist die große Vision Mahatma Gandhis von einem freien, multiethnischen und multireligiösen Staat genau in dem Moment gescheitert, als mit dem Rückzug der Briten und der Dekolonialisierung im Jahr 1949 der entscheidende Schritt zu ihrer Verwirklichung getan war. Gandhi selbst wurde von einem radikalen Hinduisten getötet, und die Geschichte des freien Indiens begann mit entsetzlichen Massakern und gigantischen Bevölkerungsverschiebungen. Immer wieder brechen religiös bedingte Unruhen aus und der Konflikt zwischen Pakistan und Indien bildet ein kontinuierliches Spannungsfeld, in dem auch das Potenzial von Atomwaffen ein Rolle spielt. Immerhin zeigen Vereinbarungen des Jahrs 1999 Perspektiven zu einer Konfliktlösung auf dem Wege bilateraler Verträge auf.
 
 Viele Nationalstaaten sind künstliche Gebilde
 
Das Beispiel des indischen Subkontinents verdeutlicht auch, dass die Formierung moderner Nationalstaaten nicht nur auf dem Boden ehemaliger multiethnischer Großreiche und gescheiterter Föderalstaaten, sondern auch in postkolonialen Zusammenhängen zum gravierenden Problem wird. Hier ist, auf andere, aber letztlich vergleichbare Weise, ein Widerspruch zwischen traditionellen Formen sozialer und politischer Organisation und nationalstaatlichen Bestrebungen entstanden, vor allem in Afrika, im Vorderen Orient und Südostasien. Die imperialen Mächte haben im Zuge ihrer Expansion, teilweise auch zur Festlegung ihrer Interessen und Einflusszonen, Grenzen gezogen, die sich häufig nicht an den sozialen Organisationsformen orientierten.
 
Diese Grenzen markierten koloniale Verwaltungseinheiten. Mit der Befreiung und Entkolonialisierung vor und nach dem Zweiten Weltkrieg und dann noch einmal in den 1960er-Jahren verstanden sich aber diese oft künstlich geschaffenen Gebilde — gemäß der UN-Norm — als Nationalstaaten. Die primären Identitätsmuster der Bevölkerungen waren aber im Wesentlichen Stämme und Stammesgruppen sowie unterschiedliche religiöse Zuordnungen, geleitet von traditionell animistischen Vorstellungen oder mehr oder weniger tief verankerter islamischer oder christlicher Religiosität.
 
In den nach Einheitlichkeit strebenden Nationalstaaten sahen sich unterschiedliche Gruppen mit starkem inneren Zusammenhalt und eigenen Interessen zum Kampf um die Dominanz aufgerufen. Sie standen und stehen häufig in hoher Loyalität ihren traditionellen Stammeskönigen und Häuptlingen gegenüber. Viele von diesen wurden, als Vertreter herrschender Gruppierungen, zu Präsidenten gewählt — doch nach Ablauf von Amtszeiten oder aufgrund negativer Wahlergebnisse zurückzutreten, ist mit der Position eines solchen Monarchen in aller Regel unvereinbar. So erscheinen viele von ihnen als Diktatoren. Ökonomische Schwierigkeiten zwischen moderner Weltwirtschaft und der traditionellen Wirtschaftsweisen verstärken die vorhandenen Spannungen und fördern angesichts existentieller Bedrohungen die Konfliktbereitschaft. Brutal ausgetragene ethnische Konflikte wie etwa der zwischen Hutu und Tutsi in Ruanda und Burundi in den 1990er-Jahren, aber auch die vor allem im Jahr 1999 aufgeflammten blutigen Auseinandersetzungen im krisengeschüttelten Indonesien sind eklatante Beispiele dafür.
 
Dass Spannungen, die den Prozess der Nationenbildung begleiten, nicht durch kurzfristige Konfliktlösungen bereinigt werden und auch auf lange Sicht weiterwirken können, zeigt sich auch in etablierten Staaten. Hier können zwar verschiedene, von der dominierenden Gruppe abweichende Traditionen, Sprachen, Lebensformen zum Teil gewaltsam unterdrückt und offiziellem Vergessen anheim gegeben werden — der französische Religionshistoriker Ernest Renan hat hierin sogar eine Voraussetzung für die Formierung eines Nationalstaates gesehen. Sie leben aber häufig fort, im Verborgenen, in lautloser Traditionspflege und melden sich oft viel später, in bestimmten Konstellationen, wieder sehr deutlich zu Wort. Das zeigt sich in verschiedenen Separationsbestrebungen innerhalb moderner Staaten, aber auch in staatenübergreifenden Zusammenhängen. Entsprechende Tendenzen gibt es in Südfrankreich und auf Korsika, vor allem aber im spanischen Baskenland (mit Ausstrahlung in das angrenzende Frankreich hinein) und im kanadischen Quebec.
 
Gerade unter diesem Gesichtspunkt zeigen sich aber auch Perspektiven, wie sich ein Ausgleich zwischen nationalstaatlicher Dominanz und regionaler Besonderheit finden lässt. Katalonien scheint hierfür ein gutes Beispiel zu sein, Südtirol ein anderes. Den besonderen Gruppen, die aufgrund verschiedener Umstände nicht zur Realisierung eines eigenen Staates gelangt sind, werden bestimmte autonome Rechte, insbesondere der offizielle Gebrauch ihrer Sprache und die Pflege ihrer Tradition, eingeräumt. Die Schweiz, die vier offizielle Sprachen zulässt, demonstriert das besonders klar. Immerhin sind also Konzepte vorhanden, nationale Einheitlichkeit und regionalethnische Verschiedenheiten zu vereinbaren.
 
 
Wenn wir heute von multikulturellen Gesellschaften sprechen, meinen wir damit das Nebeneinander von größeren Gruppen mit zum Teil sehr unterschiedlichen kulturellen Prägungen. Diese können Ergebnis oder Ausdruck verschiedenartiger ethnischer, religiöser und/oder weltanschaulicher Traditionen und Zuordnungen sein und sich in mitunter sehr markanten Differenzen in Wertvorstellungen, Zielorientierungen und Lebensstilen äußern. Aufgrund der geläufigen Mechanismen kollektiver Identitätsbildung kann darin ein beträchtliches Konfliktpotenzial stecken. Gerade der verbreitete Typus des Nationalstaats ist in diesem Sinne, wie schon gezeigt wurde, kein günstiges Milieu für die multikulturelle Koexistenz. Zwischen den Prinzipien des Nationalstaats, wie sie sich historisch entwickelt haben, und der Multikulturalität herrscht also ein Widerspruch, der für viele der erwähnten Auseinandersetzungen ursächlich ist.
 
Andererseits haben zahlreiche Staaten, nicht zuletzt als Resultat oder zur Vermeidung von derartigen Konflikten, in ihren Rechtsordnungen Grundsätze von Toleranz und Respekt auch vor anderen als den herrschenden Wertvorstellungen, etwa den Schutz von Minderheiten, etabliert. Man muss hier deutlich betonen, dass solcher Respekt in der nationalstaatlichen Tradition von vornherein verankert ist und dass die Tendenz zur weitgehenden Nivellierung und Homogenisierung mit ihr nicht von vornherein verbunden war und zwangsläufig verknüpft ist.
 
Gerade das Konzept der französischen Nation, das mit der Revolution von 1789 ins Leben trat und das Muster für die moderne Entwicklung des nationalstaatlichen Prinzips abgab, war nicht strikt exklusiv. Es war primär auf eine Verfassung gestützt, die die allgemeinen Menschenrechte zum Grundsatz erhob. Man hatte nicht nur an ein universales, brüderliches Nebeneinander freier Staaten gedacht, sondern war auch bereit, jedem, der sich zu der Ordnung der neuen revolutionären Nation bekannte, dort Lebens- und Bürgerrecht einzuräumen. Der schon erwähnte Ernest Renan sprach von dem »plébiscite de tous les jours«, dem »alltäglichen Plebiszit«, der regelmäßigen Zustimmung zu der Lebensform des Staats. Diese machte es fortan auch Menschen anderer Herkunft und Zuordnung möglich, sich einzubringen und dieselben Rechte zu genießen wie alle anderen. Genau dasselbe Prinzip beherrscht auch — bei allen Einwanderungsbeschränkungen — die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika. Derart organisierte Staaten lassen sich von ihren Grundvoraussetzungen her jedenfalls nicht ohne weiteres als rein biologische Abstammungsgemeinschaften verstehen.
 
 Exklusiv und vereinheitlicht
 
Allerdings hat die Nationalisierung sich recht bald in Richtung auf Exklusivität nach außen und Vereinheitlichung nach innen entwickelt. Und selbst dort, wo die Grundordnungen Rücksicht auf andersartige Gruppen festschreiben, bleibt deren soziale Integration ein Problem. Dies hat sich am Ende des 20. Jahrhunderts sogar verstärkt, zum einen wegen der erwähnten Revitalisierung des Nationalismus gerade bei »verspäteten Nationen«, zum anderen wegen der zunehmenden, vor allem ökonomisch bedingten Migrationsbewegungen, die Angehörige ärmerer Länder der Dritten Welt aufgrund der erheblichen Ungerechtigkeit und Ungleichgewichtigkeit der Weltwirtschaft dazu veranlassen, ja zwingen, in den reicheren Ländern Zuflucht zu suchen. Das Spannungsverhältnis zwischen nationaler Organisation und multikultureller Existenz gewinnt damit am Übergang zum 21. Jahrhundert an Brisanz, und diese wird in naher Zukunft eher noch zunehmen.
 
Im Grundsatz gibt es in der Frage der Integration gemischter Gruppen oder der Zuordnung von Einwanderern ein breites Spektrum von Optionen. Seine Extreme sind die völlige Assimilierung auf der einen, die strikte Trennung nach Art einer Ghettoisierung auf der anderen Seite. Schon aus historischen Gründen ließe sich rasch zeigen, dass diese beiden Formen einen dauerhaften gesellschaftlichen Konsens kaum gewährleisten dürften. Der einzig gangbare Weg liegt irgendwo in der Mitte zwischen diesen Extremen, in einem breiten Feld von Annäherungs- und Behauptungsprozessen, die heutzutage gern mit dem Stichwort der Akkulturation bezeichnet werden. Dabei herrscht eine starke Dynamik, und es sind sehr unterschiedliche (und auch unterschiedlich konfliktreiche) Vorgehensweisen und Prozesse möglich. Diese hängen nicht nur von den vorherrschenden Verfassungsordnungen und deren Verständnis und Umsetzung ab, sondern auch vom sozialen Verhalten der herrschenden Gruppe oder Bevölkerungsmehrheit und von der Assimilations- oder Integrationsbereitschaft der Zuwanderer oder Minoritäten.
 
Derzeit setzt sich zum Beispiel in den USA ein Modell durch, das eher das Nebeneinander unterschiedlicher ethnischer Gruppen und Kulturen betont und deren interne Organisation und Interessenvertretung toleriert. Diese Entwicklung, hinter die man schwerlich zurückgehen kann und wird, birgt allerdings auch Probleme, die in der derzeitigen Multikulturalismusdebatte lebhaft diskutiert werden. Die universale Geltung von Normen wird von »Kulturalisten« in deutlicher Weise relativiert. Die Tatsache, dass bestimmte Gruppen in ethnischen Gemeinschaften zusammengefasst werden, nicht aber die nach wie vor sozial, ökonomisch und politisch dominierenden weißen Amerikaner vorwiegend europäischer Herkunft, bestätigt im Grund nur das traditionelle Modell, das eine westlich-europäische Ethnozentrierung widerspiegelt. Auch bei den neuen Immigranten herrscht eine gewisse Tendenz zur Abschottung. Dabei ist die Verbindung zur Heimat und die Loyalität mit den Herkunftsländern oder Kulturen oft stärker als die zum neuen Lebensumfeld; es herrscht eine Diasporasituation.
 
Dies könnte noch verstärkt werden, wenn soziale Normen und rechtliche Regeln in solchen Gemeinschaften in Widerspruch zu den durch die Verfassung der Vereinigten Staaten garantierten Rechten geraten, ja sogar zu den allgemeinen Menschenrechten. Die traditionellen Normen bestimmter ethnischer Gemeinschaften, etwa im Hinblick auf die Stellung der Frau, können den allgemeinen Grundsätzen entgegenstehen. Dies zeigt, dass der Respekt vor den Anderen nicht grenzenlos sein kann. Für die richtige Mischung werden sich noch bestimmte Wege im Spannungsfeld von Nivellierung und Absonderung, allgemeinem Menschenrecht sowie der Respektierung besonderer Lebensformen finden lassen, zumal die politische Ordnung selbst einen Rahmen dafür eröffnet. Der Blick auf die Lage der indianischen Ureinwohner und der Masse der afroamerikanischen Bevölkerung lehrt allerdings, dass dies nicht einfach sein wird. Auf eine amerikanische Präsidentin schwarzer Hautfarbe wird man wahrscheinlich noch lange warten müssen. Dennoch gibt es zu einem Mittelweg, einer Integration mit Respekt vor der Rechtsordnung und höchstmöglicher Anerkennung der Besonderheiten, offenkundig keine Alternative.
 
 Integration mit Einschränkungen
 
Ein solcher Weg könnte auch in anderen Ländern angesichts mannigfacher Spannungen zwischen dem Nationalstaat mit seinem Staatsvolk und seiner multikulturellen Gesellschaft als Modell dienen, obgleich die jeweiligen historisch gewachsenen Voraussetzungen und auch die Einstellungen der Bevölkerungsmehrheiten anders sind. Die Problemlage jedoch ist sehr ähnlich, gerade aufgrund der wachsenden Migrationsbewegungen, die sich neben den USA und Kanada vor allem auf die europäischen Länder richten. Besonders deutlich ist das bei den ehemaligen Kolonialmächten Frankreich und England, deren traditionell offene Gesellschaftsformen bei allen Problemen ähnliche Entwicklungen erwarten lassen wie sie für die Vereinigten Staaten angedeutet wurden.
 
Darüber hinaus darf nicht übersehen werden, dass die enormen Migrationen, Vertreibungen und Flüchtlingsbewegungen, die die Geschichte des 20. Jahrhunderts überschatten, nach wie vor ungebrochen sind und sein werden, solange die manifeste Austragung von Konflikten durch Gewalt und die strukturelle Gewalt, die die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den reichen Ländern des Nordens und den Entwicklungsländern vornehmlich in der südlichen Hemisphäre teilweise prägt, bestehen bleiben. Die daraus resultierenden Bevölkerungsverschiebungen betreffen auch weniger die Wohlhabenden als die ohnehin von ökonomischen und internen politisch-sozialen Spannungen bedrohten oder betroffenen Länder der Dritten Welt, die — etwa als Anrainer von Bürgerkriegsländern — große Flüchtlingsströme aufnehmen und damit in der ohnehin schwierigen Situation der Formierung kultureller Identität und politischer Integration wie beim Aufbau einer angemessenen ökonomischen Infrastruktur zusätzlich belastet werden. Schon hier zeigt sich, dass Multikulturalität nicht nur ein Problem einzelner Nationen ist. Auf internationaler Ebene stellt es sich, naturgemäß, noch dringlicher — und dies gerade in einer Zeit höchst dynamischer Entwicklungen, die unter dem Begriff Globalisierung zusammengefasst werden. Er suggeriert eine zunehmende Vereinheitlichung der Welt in globalem Maßstab. Doch stellt sich dieses Phänomen, das gewiss einer der wesentlichen Trends im 21. Jahrhundert sein wird, bei näherem Zusehen ebenfalls viel differenzierter dar.
 
 
Hier scheinen zwei Elemente zentral zu sein: Die Globalisierung war und ist zunächst ein wirtschaftliches Phänomen. Es geht um den globalen Markt, in dem sich die ökonomischen Prozesse ungehemmt von staatlichen Eingriffen und nationalen Interessen entfalten sollen, und nicht zufällig geht diese Entwicklung mit dem Siegeszug neoliberaler Konzepte einher. Die neue Weltwirtschaft, deren Akteure ihre Kunden unterschiedslos in der ganzen Welt finden und auch ihre Produktionsstätten nach Marktgesetzen, nämlich denen des Arbeitsmarktes, auf allen Kontinenten suchen, wird durch die neuen und weltumspannenden Medien und Kommunikationstechnologien ganz wesentlich gestützt.
 
Dabei darf aber andererseits nicht übersehen werden, dass dieser Prozess, wie auch historisch vergleichbare Vorgänge, etwa die Hellenisierung der Mittelmeerwelt und des Nahen Ostens in der Antike sowie die neuzeitliche Kolonialisierung, zunächst nur eine begrenzte Reichweite hat. Die Global Players sind im Wesentlichen Eliten oder Mittelschichten in Wirtschaft, Politik, Kultur und Wissenschaft. Vornehmlich diese können sich als die Akteure und die eigentlichen Nutznießer dieses Prozesses begreifen. Die große Masse der Weltbevölkerung dagegen ist im Wesentlichen Objekt der Entwicklung, sie bildet die Kundschaft und liefert die Ressourcen, einschließlich der »Humanressourcen« an den kostengünstigsten Plätzen, in den Billiglohnländern.
 
Wissenschaftliche Analysen der Globalisierung in ihrem bisherigen Verlauf, wie durch den britischen Soziologen Mike Featherstone, haben deutlich gemacht, dass diese eine Fortsetzung und Intensivierung des älteren Modernisierungsprozesses ist, wie er in der Epoche der europäischen Expansion zunehmend forciert wurde. Solange dies vorherrscht oder zumindest der Eindruck begründet ist, dass dies so sei, wird sich auch der Widerstand bei all denen regen, die sich als ein Opfer dieses Prozesses sehen. Gerade der wachsende Fundamentalismus in den islamischen Ländern deutet darauf hin. Was sich angesichts einer auf westliches Know-how gestützten Modernisierung im Iran ergeben hat, ist bereits erwähnt worden und ist in gewisser Weise auch symptomatisch. Angesichts einer als aggressiv und bedrohlich empfundenen Entwicklung neigen die meisten Menschen dazu, sich in traditionalistische Vorstellungen zu flüchten. Daraus wird dann zwangsläufig und mit einer durchaus inneren Logik ein Gegenmodell aufgerichtet, mit dessen Hilfe man sich in jeder möglichen Hinsicht nach außen abschotten kann.
 
 Rückbesinnung auf Traditionen
 
Diese Abgrenzung nach außen wird sich auf weite Bereiche der kulturellen Weltordnung und der sozialen Normen beziehen. Damit verschärft sich das Dilemma, das im Hinblick auf die Multikulturalität sichtbar wurde: Es erhält eine globale Dimension. Auf der einen Seite steht ein Ordnungskonzept, das den Menschenrechten höchste Priorität einräumt und in der Charta der Vereinten Nationen fixiert wurde. Auf der anderen Seite stehen andere Traditionen, die eine hohe Rechtskultur entwickelt haben, aber mit einer durchaus anderen Orientierung der Normen. In der Konfliktkonstellation können beide als unvereinbar erscheinen, kann weder die eine noch die andere Seite nachgeben, stehen die Werte des Westens gegen die Entgleisungen des islamischen Fundamentalismus — oder die fromme Gemeinschaft der Gläubigen gegen die westlichen Teufel.
 
Diese Grundproblematik wird dadurch virulent, dass hinter den konzeptionell-ideologischen Differenzen massive politische und ökonomische Interessen stehen, die im Konfliktfall auch gewaltsam durchgesetzt werden. Gerade darum bedient man sich zur ideologischen Legitimierung und zur Mobilisierung der Massen traditioneller Gegensatzfiguren. Eine brisante Mischung wird scharf gemacht, und darum bleibt offenbar nur der »Kampf der Kulturen«. Dies darf man nicht unterschätzen. Das aus religiösen Gründen über den Schriftsteller Salmon Rushdie verhängte Todesurteil und der geschlossene Widerstand dagegen — als Ausdruck westlicher Rechts- und Freiheitsvorstellungen — sind höchst charakteristisch. Beide Seiten fühlten sich im Recht, gerade in zentralen Werten des jeweiligen Selbstverständnisses.
 
Das ist aber nicht der unvermeidliche Normalzustand. Unter welchen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen eine derartige Zuspitzung zustande kam, lässt sich gut rekonstruieren. Dafür gibt es auch eine Reihe weiterer Beispiele, etwa die militärische Auseinandersetzung zwischen dem Nordatlantischen Verteidigungsbündnis (North Atlantic Treaty Organization NATO) und Serbien, in der es um manifeste Interessen geht, auf beiden Seiten zugleich aber auch um tief verankerte Gerechtigkeitsvorstellungen, die der Menschenrechte und die der Rechte einer Nation, deren geheiligte Traditionen gerade in der umstrittenen Krisenregion, also im Kosovo, situiert sind.
 
 Das Gemeinsame in den Vordergrund stellen
 
Auch sonst gibt es außerhalb der westlichen Rechtskonzepte juristische Traditionen und Verfahren, die nicht reiner Willkür oder religiös-ideologischer Verblendung entspringen. Gerade das islamische Recht, das sich in Anlehnung an jüdische und römische Praktiken entwickelt hat, lebt von der Auslegung der grundsätzlich-kanonischen Texte. Auslegungen lassen aber, je nach gegebener Situation und Vorstellung, auch Spielräume. Erweitert man den Blick auf Kulturen wie etwa die hinduistisch-indischen und die fernöstlichen, dann stößt man ebenfalls auf Regeln und Normen, die keineswegs von vornherein fundamentalistisch sind und mit den allgemeinen Menschenrechten nicht im Widerspruch stehen. Ganz offenkundig existieren auch solche Verfahren und Normen, die sich nicht widersprechen und doch in verschiedensten kulturellen Milieus weit verbreitet und hoch respektiert sind. Insofern ist etwa Hans Küngs großes Projekt einer »Weltethik« zukunftsweisend. Es muss freilich die Bereitschaft herrschen, das Gemeinsame und Verbindende in den Vordergrund zu stellen, wie dies etwa in dem großen ökumenischen Prozess zwischen den christlichen Kirchen geschehen ist und — bei aller Differenz — im Großen und Ganzen weiterhin geschieht. Darüber hinaus hat der ursprünglich ökonomische Vorgang der Globalisierung längst eine kulturelle Dimension erreicht, wie sich besonders auf dem Gebiet der künstlerisch-ästhetischen Kommunikation zeigt, aber auch in der Folklore und Popkultur. Hier ergeben sich spannende Prozesse von Aneignung und wechselseitiger Inspiration.
 
Demgegenüber wird der kulturelle Pluralismus nicht zu einer völligen Relativierung führen können. So ist es nicht hinnehmbar, dass elementare Rechte, die auch völkerrechtlich verbrieft sind, gezielt und dauerhaft verletzt werden, zumal dank der modernen Massenkommunikation die brutalen Details solcher Verbrechen rasch verbreitet werden. Dagegen, etwa zum Schutz vor Menschenrechtsverletzungen wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und brutalen ethnischen Säuberungen, auch mit gewaltsamen Mitteln vorzugehen, mag unvermeidlich erscheinen, gerade wenn man die Lehren aus der Geschichte zieht und die Zurückhaltung der internationalen Staatenwelt gegenüber der Nazidiktatur bedenkt. Das muss man den führenden Politikern der NATO bei allen Machtinteressen und angesichts mancher Fehleinschätzungen gewiss zugute halten, als sie militärische Angriffe gegen Jugoslawien anordneten: dass sie nicht mehr bereit waren, den schweren Verletzungen elementarer Rechte der albanischen Bevölkerung im Kosovo zuzusehen. Sie sind mit einer demokratischen Öffentlichkeit konfrontiert, die reine machiavellistische Machtpolitik nicht akzeptieren würde.
 
Gerade das macht die Problematik eines solchen Gewalteinsatzes deutlich. Wenn angesichts von Verstößen gegen das Menschenrecht eine »Weltpolizei« gefragt ist, muss solche Art von Gewaltanwendung allgemein legitimiert sein. Dafür aber können nach Lage der Dinge nur die Vereinten Nationen (United Nations Organization UNO) zuständig sein. Diese stellen auch die nötigen Instrumentarien zur Verfügung, und man hat von ihnen bereits Gebrauch gemacht. Das gilt besonders für den Einsatz von Friedenstruppen. Angesichts der möglichen Konflikte zwischen allgemeinen Rechten und solchen partikulären Praktiken, die diese nicht respektieren, müssten in dieser Institution Entscheidungen getroffen werden.
 
 Eine Polizei für alle?
 
Es besteht durchaus die Chance, dass sich dieser Grundsatz in Zukunft durchsetzen wird. Dieser Optimismus gründet sich darauf, dass es angesichts der Lage in der Welt dazu keine realistische, nicht zu unabsehbaren Katastrophen führende Alternative gibt. Damit würde sich ein historischer Prozess auf globaler Ebene gleichsam »wiederholen«, der sich entsprechend bereits in der Geschichte der griechischen Polis und vor allem in der europäischen Staatenwerdung seit dem späten Mittelalter realisiert hat — über längere Zeiträume hinweg und von schmerzhaften Konflikten begleitet —, nämlich die Durchsetzung einer einheitlichen Gewaltausübung gegenüber individuellen und partikularen Mächten und adligen Herren, zum Schutz der gesamten Gemeinschaft und zur Stiftung des inneren Friedens. Das staatliche Gewaltmonopol steht dafür, dass Friedensstörer zur Rechenschaft gezogen und Rechtsverletzungen geahndet werden. Zunächst, in der Epoche des Absolutismus, war dies die Durchsetzung herrscherlicher Macht. Seit der Epoche der Revolutionen, in denen der Grundsatz der Volkssouveränität zur Geltung gebracht wurde, ist dieses Gewaltmonopol, eingebettet in strikte Regeln zur Verhinderung von Machtmissbrauch, anerkannter und legitimer Grundzug jeder demokratischen Verfassung.
 
 Internationale Kontrollmechanismen
 
Entscheidend ist die Durchsetzung des Rechts, das die Exekution von Strafen vorsieht. Wesentliches Element derartiger Rechtsprechung auf internationaler Ebene waren die Nürnberger Prozesse, die auch rechtshistorisch Schule gemacht haben. Wenn der internationale Gerichtshof in Den Haag Urteile fällt, die nicht mangels Umsetzung lediglich proklamatorischen Charakter haben, sondern auch vollstreckt werden, ist das ein weiterer Schritt in dieselbe Richtung: Die Verfolgung von Kriegsverbrechern während des Bosnien- und Kosovokriegs oder die Aburteilung libyscher Staatsbürger, die für ein Flugzeugattentat verantwortlich waren, sind Beispiele dafür. So werden die Waffen der internationalen Staatengemeinschaft geschärft. Entsprechendes geschieht auch auf privatrechtlicher Ebene, nicht zuletzt im Interesse der wirtschaftlichen Globalisierung, aber auch im Sinne eines faireren Umgangs. Internationale Kontrollmechanismen für die wild wuchernden Finanzmärkte werden diskutiert oder — angesichts der extremen Verschuldung zahlreicher Entwicklungsländer — die Etablierung eines internationalen Insolvenzrechts, das Staaten eine Bankrotterklärung erlaubt und damit eine regulierte Abfindung der Gläubiger, die die ärmsten Länder nicht völlig stranguliert. Wie bei der Formierung des innerstaatlichen Gewaltmonopols kommt es aber bei allen solchen in sich heiklen, da im Zweifelsfall mit Gewaltanwendung verbundenen Maßnahmen darauf an, dass diese von der großen Mehrheit der Beteiligten, also der Staatengemeinschaft oder der Weltgesellschaft, anerkannt werden. Dies setzt voraus, dass bestimmte Regeln und Verfahrensweisen, insbesondere die internationale Kontrolle der Gewaltausübung, auch angewendet werden. Davon ist die Welt noch weit entfernt, aber »sie bewegt sich doch«.
 
 Weltbilder und geistige Perspektiven
 
Allerdings wird sich eine realistische Perspektive nicht von alleine in die Praxis umsetzen. Die Menschen neigen im Allgemeinen nicht dazu, aus der Geschichte zu lernen und mögliche Konsequenzen ihres Verhaltens als katastrophal einzuschätzen. Damit solche Perspektiven eine Chance haben, sind nicht allein die ständige Kontrolle von Macht in legitimierter Form und das ständige Aushandeln von Interessen gefragt, sondern auch ein entsprechendes Bewusstsein. Es muss sich ein Menschen- und Weltbild durchsetzen, das nicht Gegensätze modelliert, sondern Gemeinsamkeiten herausarbeitet. Den institutionellen Mechanismen müssen ideelle und mentale zur Seite stehen, sie geistig grundieren, wie sie ihrerseits durch Institutionen gestützt und vermittelt werden. Es geht sozusagen um eine innere Globalisierung.
 
Sind wir dazu gerüstet? Auf den ersten Blick sieht es nicht so aus. Den erwähnten Prozessen der Modernisierung und Kolonialisierung, mithin auch der Globalisierung entspricht ganz genau der Siegeszug eines spezifischen Menschenbilds und Weltverständnisses in der Wissenschaft und in allen geistigen Bereichen. Es sind gerade die daraus abgeleiteten Einstellungen und Verhaltensweisen, die den nicht selten auch fundamentalistischen Widerstand in anderen Kulturkreisen hervorrufen. Denn diese westlichen Diskurse waren sozusagen machtgestützt und gingen mit der Expansion in den kolonialisierten Ländern einher. Deshalb konnten und können sie von diesen anderen Identitäten ja auch als fremd, bedrohlich und als zerstörerisch gewertet werden.
 
 Das bedrohliche Weltbild
 
Es geht dabei um das strikt säkulare und rationale Weltbild, das wissenschaftlich geprägt ist, also einen deutlichen Primat naturwissenschaftlicher Modelle zeigt. Der unerhörte Fortschritt in diesen Bereichen verstärkt sich derzeit noch in der zweiten industriellen Revolution, in der Entwicklung der Informatik und ihrer Technologie, in der Mikrosystemtechnik, der Weltraumforschung und vor allem in der Biologie. Diese hat sich bereits als Leitwissenschaft für das neue Jahrhundert etabliert, und zwar in einer recht einseitigen Weise. Das Mysterium des Lebens im genetischen Reservoir wird Gegenstand von Gentechnologie. Selbst besonnene Vertreter des Fachs wie Hubert Markl, die neben die biologisch-physische Prägung des Menschen auch dessen kulturelle Formung stellen, sehen in der kulturellen Entwicklung die Mechanismen der Evolution im Sinne Darwins wirksam. Die Kluft zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, die der englische Physiker und Schriftsteller Charles Percy Snow als »zwei Kulturen« bezeichnet hat, vertieft sich damit. Die wiederholten Rufe nach Kooperation zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen drücken angesichts dieser Situation lediglich ein Unbehagen aus. Indiz für diese wachsende Kluft ist auch der Appell an eine Ethik für die Naturwissenschaften.
 
 Die Abkehr vom rationalen Weltbild
 
Längst deutet sich jenseits der Wissenschaften Abkehr und Kritik am einseitig rational-säkularen Welt- und Menschenbild an und es zeigt sich eine Verunsicherung durch die Dominanz dieses Bilds in westlichen Ländern. Esoterische Schriften erleben einen Boom, religiöse Bewegungen und Sekten verzeichnen Zulauf und versprechen gerade wegen ihrer fundamentalistischen Ansichten Halt und Geborgenheit. Obskure Wunderheiler finden oft mehr Vertrauen als gut ausgebildete Ärzte. Alternative Konzepte und Lebensformen sind populär. Der Begriff »alternativ« verdeutlicht die innere Unzufriedenheit mit dem rationalen Fortschrittsmodell und seinen bedrohlichen Konsequenzen. Der »konziliare Prozess« der christlichen Ökumene liefert mit seiner Orientierung auf »Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung« die Schlüsselbegriffe dafür.
 
Die Abwendung von den Einseitigkeiten der Moderne hat auch Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen den Kulturen. Sie führt nämlich dazu, dass den Weltanschauungen und Religionen anderer Kulturkreise vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die Hinwendung zu indischen Gurus wurde bereits in den 1960er-Jahren populär, und die derzeitige Verbreitung buddhistischer Vorstellungen in Europa, verbunden mit einer besonderen Wertschätzung des Dalai Lama, hat denselben Hintergrund. Hieran ist vieles modisch, aber möglicherweise ist die Hinwendung zu fremden Denkmodellen und Lebensstilen mehr als ein temporärer Ausbruch aus den Zwängen westlichen Alltags. Bietet sie doch geistige Auseinandersetzung mit anderen Welten und einer eher ganzheitlichen Sicht. Auf diese Weise ist nicht nur die Korrektur mancher Einseitigkeiten, sondern auch ein interkultureller Dialog eingeleitet. Er könnte auch anderen Konzepten als den westlich-europäischen ihren Platz in einer globalen Kultur einräumen, ohne zur mentalen Nivellierung zu führen. Die intellektuelle Auseinandersetzung des Philosophen Peter Sloterdijk mit seiner geistigen Erfahrung in Indien ist ein wichtiges Beispiel.
 
 Zwei Denkschulen
 
Zwei philosophisch-intellektuelle Richtungen haben in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung gewonnen: Die vor allem in Frankreich entwickelte Alteritätsphilosophie und die aktuelle amerikanische Sozialphilosophie. Für die Grundfragen menschlichen Zusammenlebens, die Bildung kollektiver Identitäten, die sich nicht durch Abgrenzung definieren, sondern Rücksicht bewahren, bieten sie ein gedankliches Instrumentarium.
 
Der aus Litauen stammende Philosoph Emmanuel Levinas — seine Familie wurde Opfer des Holocaust — gründet sein Denken auf eine Ethik des Respekts im Angesicht eines Gegenüber. In rabbinischen Denktraditionen verwurzelt, ist es ein Zeugnis für die Revitalisierung religiöser und zugleich entmythisierter Vorstellungen in der zeitgenössischen Philosophie. Sein Grundgedanke besteht darin, das jeweils Andere zu nehmen wie es ist und ihm sein Geheimnis zu lassen. Dem wurde von Jacques Derrida kritisch entgegengehalten, dass es nicht genüge, den Anderen gleichsam »draußen« zu lassen. Vielmehr käme es darauf an, gemeinsame Bereiche zu entdecken. Auch Levinas sieht die Spannung zwischen der unbedingten Zuwendung zum Anderen und dem Postulat einer Gerechtigkeit gegenüber den Anderen. Hier geht es um eine auch theoretisch schwer zu bewältigende Grundproblematik, die Diskrepanz zwischen Nivellierung und Vereinnahmung einerseits sowie Differenz und Separierung andererseits. Der Philosoph Bernhard Waldenfels konzentriert sich deshalb — in Anlehnung an Konzepte von Maurice Merleau-Ponty und in der Tradition von Husserls Phänomenologie — auf Felder von »Verflechtung«, »Überkreuzung« und »Verschränkung«, die einen »Zwischen«-Raum zwischen Eigenem und Fremdem abstecken.
 
Parallel zur gewachsenen Sensibilität für ethnische Gemeinschaften und in Reaktion auf neoliberale Tendenzen mit ihrer Akzentuierung des wirtschaftlichen Egoismus hat sich in Amerika eine Richtung entwickelt, die theoretisch und praktisch kooperative Werte und gemeinschaftliche Orientierung hervorhebt, der Kommunitarismus. Die Frage gesellschaftlicher Integration ist in das Blickfeld geraten, wie vor allem der kanadische Sozialphilosoph Charles Taylor zeigt. Ihm geht es um die »moralische Topographie« einer Gesellschaft, also um Normen und Wertvorstellungen, die für den Gruppenzusammenhalt nach deren Selbstverständnis wichtig sind.
 
Es ließe sich behaupten, dass beide Denkschulen aus unterschiedlicher Perspektive Grundprobleme menschlichen Zusammenlebens intensiv erörtern und gedankliche Perspektiven für eine spannungsreiche, friedlich-zivile Koexistenz aufzeigen. Michael Wimmer schreibt in dem von Christoph Wulf herausgegebenen Band »Vom Mensch« dazu: »So geht es heute darum, die Möglichkeit eines pluralen Existierens denkbar zu machen, in der weder die Fremdheit in Gestalt der Singularität des einzelnen Menschen noch die Fremdheit zwischen den Kulturen, Gesellschaften und Zeiten zugunsten einer Einheit reduziert wird, in dem aber auch keine Indifferenz und Isolation wechselseitig absoluter Fremder vorherrscht, sondern in der eine Beziehung nicht trotz, sondern aufgrund der Trennung besteht.« Einheit kann nicht Nivellierung und Einschmelzung sein, sondern ist nur im Dialog von sich gegenseitig als solche respektierenden Einheiten akzeptabel. In dem Gemisch aus massiven Interessenkonflikten und verschärften Prozessen nationaler und kultureller Identitätsbildungen ist eine ideelle Fundamentierung unerlässlich. Interessen auszuhandeln, Macht und Kompetenzen in institutionalisierter Form auszubalancieren, ist zwar notwendig, aber leider nicht ausreichend, um die Gratwanderung zu ermöglichen. Zu ihr gibt es keine Alternative.
 
Prof. Dr. Hans-Joachim Gehrke
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Konflikt: Feindbilder, Gewaltbereitschaft, Gewaltarten
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Konfliktforschung: Identität und Abgrenzung
 
 
Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Aus dem Englischen. Taschenbuchausgabe Berlin 1998.
 Berger, Peter L./Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Aus dem Amerikanischen. Taschenbuchausgabe Frankfurt am Main 1998.
 Derrida, Jacques: Die Schrift und die Differenz. Aus dem Französischen. Taschenbuchausgabe Frankfurt am Main 71997.
 Hobsbawm, Eric J.: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780. Aus dem Englischen. Taschenbuchausgabe München 21998.
 
Identitäten, herausgegeben von Aleida Assmann und Heidrun Friese. Frankfurt am Main 1998.
 Lévinas, Emmanuel: Die Zeit und der Andere. Aus dem Französischen. Hamburg 31995.
 Müller, Klaus E.: Das magische Universum der Identität. Elementarformen sozialen Verhaltens. Ein ethnologischer Grundriß. Frankfurt am Main u. a. 1987.
 Oberndörfer, Dieter: Die offene Republik. Zur Zukunft Deutschlands und Europas. Freiburg im Breisgau u. a. 1991.
 Sloterdijk, Peter: Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung. Ästhetischer Versuch. Frankfurt am Main 31994.
 
Die Vielfalt der Kulturen, herausgegeben von Jörn Rüsen u. a. Frankfurt am Main 1998.
 Waldenfels, Bernhard: Der Stachel des Fremden. Frankfurt am Main 21991.
 Waldenfels, Bernhard: Studien zur Phänomenologie des Fremden, Band 1: Topographie des Fremden. Frankfurt am Main 1997.
 
Wer inszeniert das Leben? Modelle zukünftiger Vergesellschaftung, herausgegeben von Frithjof Hager u. a. Frankfurt am Main 1996.

Universal-Lexikon. 2012.

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